“The Queens Gambit” (zu deutsch Das Damen-Gambit), fasziniert nicht etwa mit Drachen, Sex-Szenen oder Romantik, sondern mit dem langweiligsten Sport der Welt: Schach.
Eine Hauptdarstellerin die Erwartungen übertrifft
Die 24-jährige Schauspielerin Anya Taylor-Joy überzeugte bereits in der Jane Austen Verfilmung von “Emma” und in dem von Kritikern gelobten Horror-Film “The Witch”. Dieses Mal schlüpfte sie in die Rolle des Waisenmädchens Beth, das ihre Mutter mit neun Jahren durch einen Autounfall verlor. Sie landet in einem evangelischen Waisenhaus der 1960er in Kentucky. Selbst dort ist sie eine Außenseiterin, ist still, unbeteiligt und in keiner Weise außergewöhnlich – bis sie das erste Mal Schach spielt.
„Ich fühle mich nirgends, sicherer als in den 64 schwarz-weißen Quadraten.“ sagt die 9-Jährige und serviert ihre teilweise 50 Jahre älteren Gegner so eiskalt ab, dass man sich vor Schadenfreude manchmal das Grinsen nicht verkneifen kann. Das Brillieren eines jungen Mädchens soll hier aber keine Agenda gegen die überwiegend von Männern dominierte Domäne des Schachs sein. Sicherlich hätte man eine ähnliche Geschichte auch mit einem anderen Hintergrund erzählen können. Jedoch liefert die Welt der Karo-Pollunder und Hornbrillen einen interessanten Wegrand der talentierten Beth, die nicht oft und nicht gerne verliert.
Schach – das Spiel, das die Verrückten gesund hält?
Einen spannenden Gegensatz zu ihrer Genialität im Spiel bietet ihre Neigung zum Eskapismus. Schon mit neun Jahren bekam Beth im Waisenhaus Tranquilizer. Für die 1960er war das nichts Ungewöhnliches, dennoch läuft es darauf hinaus, dass die junge Protagonistin in eine Pillen- Abhängigkeit verfällt, die später durch Alkohol ergänzt wird. Die immer schlimmer werdende Sucht hat aber nicht nur Nachteile, sondern zwingt Beth auch ihr Kindheitstrauma aufzuarbeiten. Der Story-Twist ist gelungen und wirkt ehrlich, denn was ist langweiliger als ein makelloser Held?
Die Charakterentwicklung: kein Bauernopfer
Die 7 Folgen à eine Stunde beginnen mit der Eröffnung und schließen mit dem Endspiel. Was dazwischen passiert ist eine Charakterentwicklung par excellence. Die Außenseiterin Beth bleibt eine Außenseiterin, aber gewinnt an Selbstbewusstsein und Authentizität. Sie wirkt nicht wie ein Klischee, schon gar nicht wie ein geschriebener Charakter. Anya Taylor-Joy verschafft Beth die klaren Konturen einer jungen Frau, die sehr sachlich, manchmal sogar unterkühlt wirkt. Man kann sich genauso von ihr distanzieren, wie in sie hineinfühlen. Unterstützt wird das ganze durch eine atemberaubende Filmästhetik, bei der vor allem das Set-Design und die Kostüme überzeugen. Letzteres ist bei vielen anderen Retro-Netflix-Originals schon mal ordentlich in die Hose gegangen. Als Beispiel dafür sei nur das für die 80er völlig übertriebene Kostümdesign der Serie Stranger Things genannt.
Punktabzüge gibt es auch nicht beim Rest der Besetzung. In den Nebenrollen glänzen zudem Marielle Heller und Thomas Brodie-Sangster den man aus Game of Thrones und The Maze kennt. Netflix machte hier auch nicht den Fehler die Serie mit vermeintlich-vergessen Songs aus den 60er und 70ern zu bombardieren. Der Score tut genau das was er soll, begleitet die Handlung und unterstreicht die Emotionen. Punktabzug gibt es hier nur für die Länge der Folgen, vor allem im Mittelteil hätte man die Handlung an einigen Stellen etwas anziehen können, um weniger Spannung einzubüßen. Wer sich jetzt noch fragt, ob man sich wirklich die Mühe gemacht hat die Schachspiele realistisch zu gestalten, wird nicht enttäuscht. Tatsächlich holte sich Regisseur Frank Scott die Hilfe der Schach-Grandmaster Bruce Pandolfini und Garry Kasparov um auch hier für Authentizität zu sorgen. Alles in allem ist The Queens Gambit das wahrscheinlich beste Netflix-Original dieses Jahres. Die Verfilmung des gleichnamigen Buches von Walter Tevis überrascht mit der spannenden Auseinandersetzung mit einem auf den ersten Blick trockenem Thema.
Und wenn Sie das noch nicht überzeugt hat, hier meine abschließende Beurteilung:
Es gibt Serien, bei denen man am Ende fast ein bisschen wehmütig wird. Man wünscht sich die Geschichte der Heldin oder des Helden weiter erzählen zu können – nicht bei dieser Serie. The Queens Gambit ist eine in sich geschlossene Erzählung von Emanzipation, Hybris, Selbstbewusstsein und Selbstverlust. Wie nur wenige Serien es können, werden hier nahezu alle Fragen des Zuschauers beantwortet.
Also, werfen Sie alle ihre abendlichen Pläne über den Haufen und schauen Sie The Queens Gambit.